
Herr Wolfgang Ischinger hat das Thema „Kollaps der Weltentwicklung“
auf die Tagesordnung gesetzt. Man muss zustimmen, dass die Ereignisse
bei weitem nicht nach einem optimistischen Szenario verlaufen. Aber die
Argumentation mancher unserer Kollegen, es sei zu einem plötzlichen und
schnellen Zusammenbruch der seit Jahrzehnten herrschenden Weltordnung
gekommen, können so nicht hingenommen werden. Es ist eher umgekehrt – die Ereignisse des letzten Jahres haben
gezeigt, dass unsere Warnungen hinsichtlich der Existenz von tiefen
Systemproblemen bei der Organisation der europäischen Sicherheit und in
den internationalen Beziehungen im Ganzen gerechtfertigt waren. Ich
möchte an die Rede des russischen Präsidenten Wladimir Putin erinnern,
die er von dieser Tribüne vor acht Jahren gehalten hat.
Die Konstruktion der Stabilität, die sich auf die UN-Satzung und die
Prinzipien von Helsinki gestützt hat, ist schon lange untergraben worden
– durch die Handlungen der USA und ihrer Verbündeten in Jugoslawien
(die Bombardements dort), im Irak, in Libyen, mit der Erweiterung der
Nato nach Osten und der Schaffung von neuen Demarkationslinien. Das
Projekt der Errichtung eines „europäischen Hauses“ ist gerade deshalb
nicht umgesetzt worden, weil unsere Partner im Westen sich nicht von den
Interessen der Schaffung einer offenen Sicherheitsarchitektur bei
geneseitiger Achtung der Interessen leiten ließen, sondern von den
Illusionen und Überzeugungen der Sieger im Kalten Krieg. Die im Rahmen
der OSZE und des Russland-Nato-Rates feierlich angenommenen
Verpflichtungen, die eigene Sicherheit nicht auf Kosten der Sicherheit
der anderen zu gewährleisten, wurden in der Praxis ignoriert.
Das Problem der Raketenabwehr ist ein schillerndes Beispiel für den destruktiven Einfluss einseitiger Schritte auf dem Gebiet militärischer Aktivitäten, die den elementaren Interessen anderer Staaten zuwiderlaufen. Unsere Angebote zur gemeinsamen Arbeit bei der Raketenabwehr wurden zurückgewiesen. Stattdessen wurde uns vorgeschlagen, bei der Schaffung der globalen amerikanischen Raketenabwehr mitzumachen, streng nach den Richtlinien aus Washington. Wie wir schon mehrmals betont und anhand von Tatsachen erklärt haben, birgt diese Raketenabwehr reelle Risiken für die russischen Kräfte der atomaren Eindämmung.
Jede beliebige Handlung, die die strategische Stabilität untergräbt,
zieht unweigerlich Gegenmaßnahmen nach sich. Damit wird dem gesamten
System der internationalen Verträge auf dem Gebiet der Waffen-Kontrolle,
deren Lebensfähigkeit unmittelbar vom Faktor der Raketenabwehr abhängt,
ein langfristiger Schaden zugefügt.
Wir verstehen nicht einmal, womit diese amerikanische Obsession, eine
globale Raketenabwehr zu schaffen, zusammenhängt. Mit dem Streben nach
unanfechtbarer militärischer Vorherrschaft? Mit dem Glauben an die
Möglichkeit, Probleme technisch zu lösen, die ihrem Wesen nach
politische sind? Wie dem auch sei: die Raketengefahren haben nicht
abgenommen, aber im Euro-Atlantik ist ein starker Reizfaktor entstanden,
den zu überwinden sehr viel Zeit brauchen wird. Wir sind dazu bereit.
Ein anderer destabilisierender Faktor war die Weigerung der USA und
anderer Nato-Mitglieder, die Vereinbarung über die Anpassung des
Vertrags über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE) zu
ratifizieren, und das hat diesen Vertrag begraben.
Dabei versuchen unsere amerikanischen Kollegen in jeder von ihnen
selbst geschaffenen schwierigen Situation, die Schuld auf Russland
abzuwälzen. Nehmen wir die in letzter Zeit aufgelebten Diskussionen um
den Vertrag über nukleare Mittelstreckensysteme (INF). Die Experten sind
gut mit den Handlungen der USA vertraut, die dem Geist und den
Buchstaben dieses Dokuments entgegenlaufen. So hat Washington im Rahmen
der Errichtung eines globalen Raketenabwehrsystems ein großangelegtes
Programm zur Schaffung von Zielflugkörpern entfaltet, deren
Charakteristiken analog mit durch den INF-Vertrag verbotenen
landgestützten ballistischen Raketen sind oder diesen sehr nahe kommen.
Die von den USA breit verwendeten Kampfdrohnen fallen unter die
vertraglich festgelegte Definition von landgestützten Flügelraketen
mittlerer Reichweite. Der Vertrag verbietet ausdrücklich
Abschussvorrichtungen für Abfangflugkörper, die bald in Rumänien und
Polen aufgestellt werden sollen, denn von ihnen können Flügelraketen
mittlerer Reichweite gestartet werden.
Die amerikanischen Kollegen weigern sich, diese Fakten anzuerkennen
und behaupten, sie hätten „begründete“ Vorwürfe gegen Russland
hinsichtlich des INF-Vertrags, aber sie bemühen sich, Konkretes außen
vor zu lassen.
Unter Berücksichtigung dieser und vieler anderer Faktoren zu
versuchen, die jetzige Krise mit den Ereignissen des letzten Jahres in
Zusammenhang zu bringen, bedeutet unserer Meinung nach, sich einer
gefährlichen Selbsttäuschung hinzugeben.
Es kommt zur Kulmination des im letzten Vierteljahrhundert von
unseren westlichen Kollegen gefahrenen Kurses auf die Bewahrung ihrer
dominanten Stellung in den Weltangelegenheiten und die Ergreifung des
geopolitischen Raums in Europa mit allen Mitteln. Von den GUS-Staaten –
unseren nächsten Nachbarn, die mit uns seit Jahrhunderten
wirtschaftlich, humanitär, historisch, kulturell und sogar familiär
verbunden sind – wird die Wahl gefordert: „entweder mit dem Westen oder
gegen den Westen“. Das ist die Logik eines Spiels mit Null-Resultat, das
alle doch eigentlich als Teil der Vergangenheit hinter sich lassen
wollten.
Auch die strategische Partnerschaft zwischen Russland und der
Europäischen Union, die der Entwicklung von Mechanismen den Weg der
Konfrontation des gegenseitig vorteilhaften Handelns vorgezogen hat, hat
die Härteprüfungen nicht überstanden. Da muss man natürlich an die
nicht wahrgenommene Möglichkeit der Umsetzung der im Juni 2010 in
Merseburg von Kanzlerin Merkel vorgeschlagenen Initiative zur
Einrichtung eines Russland-EU-Ausschusses zu außenpolitischen und
Sicherheitsfragen auf der Ebene der Außenminister denken. Russland hat
diese Idee unterstützt, die Europäische Union hat sie aber verworfen.
Ein solcher Mechanismus des ständigen Dialogs (wenn er denn geschaffen
worden wäre) hätte es erlaubt, operativer und effektiver Probleme
anzugehen und rechtzeitig gegenseitige Besorgtheiten aus dem Weg zu
räumen.
Was die Ukraine betrifft, haben unsere amerikanischen Kollegen und
unter ihrem Einfluss auch die Europäische Union in jeder Etappe der
Entwicklung der Krise Schritte unternommen, die zur Eskalation führten.
So war es, als die EU sich weigerte, unter Beteiligung Russlands die
Folgen der Einführung des Wirtschaftsteils des Assoziierungsabkommens
mit der Ukraine zu erörtern, und davor ging es um die gegen die
Regierung gerichteten Unruhen. So war es auch, als die westlichen
Partner den Kiewer Behörden ein ums andere Mal „Ablassbriefe“ erteilten,
und Kiew statt das Versprechen zu erfüllen, einen gesamtnationalen
Dialog aufzunehmen, eine großangelegte Militäroperation begann, wobei es
die eigenen Bürger, die mit dem verfassungswidrigen Machtwechsel und
den ultranationalen Exzessen nicht einverstanden waren, zu „Terroristen“
stempelte.
Wir können uns nur sehr schwer erklären, warum sich die universellen
Prinzipien der Regelung von inneren Konflikten, die vor allem einen
inklusiven politischen Dialog zwischen den Protagonisten vorsehen, im
Bewusstsein vieler unserer Kollegen nicht auf die Ukraine erstrecken.
Warum unsere Partner zum Beispiel hinsichtlich Afghanistan, Libyen,
Irak, Jemen, Mali und Südsudan die Regierungen hartnäckig dazu aufrufen,
sich mit der Opposition, mit Aufständischen und in manchen Fällen auch
mit Extremisten zu einigen – und bezüglich der Krise in der Ukraine
anders auftreten, indem sie bei der Gewaltoperation Kiews Nachsicht
zeigen, bis hin zur Rechtfertigung der Anwendung von Kassettenbomben.
Leider sind unsere westlichen Kollegen geneigt, vor allem die Augen
zu verschließen, was die Kiewer Behörden sagen und machen, das Entfachen
von fremdenfeindlichen Stimmungen eingeschlossen. Ich erlaube mir ein
Zitat: „Der ukrainische Sozialnationalismus sieht die ukrainische Nation
als Blut- und Rassegemeinschaft.“ Und weiter: „Die Frage der totalen
Ukrainisierung im künftigen sozialnationalistischen Staat wird im Laufe
von drei bis sechs Monaten mit Hilfe einer harten und ausgewogenen
Staatspolitik gelöst werden.“ Autor ist der Abgeordnete der Obersten
Rada Andrej Bilezki – Befehlshaber des Regiments „Asow“, das aktiv an
den Kampfhandlungen im Donbass teilnimmt. Auch andere in die Politik und
an die Macht gestürmten Leute wie D. Jarosch, O. Tjagnibok und O.
Ljaschko, der Leiter der in der Obersten Rada vertretenen Radikalen
Partei, traten in der Öffentlichkeit wiederholt für eine ethnische
Säuberung der Ukraine und die Vernichtung von Russen und Juden ein.
Diese Äußerungen haben in den westlichen Hauptstädten überhaupt keine
Reaktion hervorgerufen. Ich denke nicht, dass das heutige Europa sich
erlauben kann, die Gefahr der Verbreitung des neonazistischen Virus zu
ignorieren.
Die ukrainische Krise kann nicht mit militärischer Gewalt geregelt
werden. Das wurde im letzten Sommer deutlich, als die Situation auf dem
Kriegsschauplatz dazu zwang, die Minsker Vereinbarungen zu
unterzeichnen. Das zeigt sich auch jetzt, wo der nächste Versuch, einen
militärischen Sieg zu erringen, zum Erliegen kommt. Aber ungeachtet
dessen ertönen in einer Reihe westlicher Länder immer lauter Appelle,
die Unterstützung für den Kurs Kiews hin zur Militarisierung der
Gesellschaft und des Staates zu verstärken, die Ukraine mit
todbringenden Waffen „vollzupumpen“ und in die Nato zu ziehen. Hoffnung
macht die immer stärker werdende Opposition gegen diese Pläne in Europa,
die die Tragödie des ukrainischen Volkes nur noch verschlimmern können.
Russland wird auch in Zukunft für eine Friedensregelung einstehen.
Wir treten konsequent für die Einstellung der Kampfhandlungen, den Abzug
schwerer Waffen und die Aufnahme von direkten Verhandlungen zwischen
Kiew und Donezk und Lugansk ein, um konkrete Wege zur Wiederherstellung
des gemeinsamen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Raumes im
Rahmen der territorialen Integrität der Ukraine zu finden. Genau darum
ging es bei den vielfältigen Initiativen von Wladimir Putin im Rahmen
des „Normandie-Formats“, die es erlaubten, den Minsker Prozess und
unsere weiteren Anstrengungen zu seiner Entwicklung, einschließlich der
gestrigen Verhandlungen der Staatschefs von Russland, Deutschland und
Frankreich im Kreml, in die Wege zu leiten. Wie Sie wissen, werden diese
Verhandlungen fortgesetzt. Wir sind der Meinung, dass es alle
Möglichkeiten gibt, Ergebnisse zu erzielen und Empfehlungen abzustimmen,
die es den Seiten erlauben werden, diesen Konfliktknoten zu lösen.
Es ist wichtig, dass alle die Ausmaße der Risiken erkannt haben. Es
ist an der Zeit, von der Gewohnheit zu lassen, jedes Problem einzeln zu
betrachten, „ohne hinter den Bäumen den Wald zu sehen“. Es ist Zeit, die
Lage komplex einzuschätzen. Die Welt befindet sich heute an einem
radikalen Wendepunkt, der mit dem Wechsel der historischen Epochen
zusammenhängt. Die „Geburtswehen“ der neuen Weltordnung machen sich
durch das Anwachsen von Konfliktsituationen in den internationalen
Beziehungen bemerkbar. Wenn statt einer strategischen globalen
Sichtweise Gelegenheitsentscheidungen von Politikern im Hinblick auf die
nächsten Wahlen bei ihnen zu Hause triumphieren sollten, wird die
Gefahr auftauchen, die Kontrolle über die Hebel der globalen Lenkung zu
verlieren.
Ich erinnere daran, dass zu Beginn des Konflikts in Syrien viele im
Westen dazu aufriefen, die Bedrohung durch Extremismus und Terrorismus
nicht zu übertreiben, wobei sie behaupteten, die würde sich irgendwie
„selbst geben“, das Wichtigste sei aber, den Machtwechsel in Damaskus zu
erreichen. Wir sehen, was sich daraus ergeben hat. Riesige Gebiete im
Nahen Osten, in Afrika und in der afghanisch-pakistanischen Zone
entziehen sich immer mehr der Kontrolle durch die legitimen Regierungen.
Der Extremismus schwappt in andere Regionen über, Europa
eingeschlossen. Die Risiken der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen
nehmen zu. Die Situation bei der Nahost-Regelung und in anderen Zonen
regionaler Konflikte nimmt einen explosiven Charakter an. Bisher wurde
keine adäquate Strategie zur Eindämmung dieser Herausforderungen
entwickelt.
Ich möchte hoffen, dass die Diskussionen heute und morgen in München
uns im Verstehen dessen näherbringt, auf welchem Niveau sich die
Anstrengungen bei der Suche nach kollektiven Antworten auf die für alle
gemeinsamen Bedrohungen befinden. Wenn man ein ernsthaftes Ergebnis
will, darf das Gespräch nur gleichberechtigt geführt werden – ohne
Ultimaten und Drohungen.
Wir sind weiterhin davon überzeugt, dass es viel einfacher wäre, den
ganzen Komplex an Problemen anzugehen, wenn sich die größten Akteure auf
die strategischen Richtlinien ihrer Beziehungen einigen könnten.
Unlängst sagte die ständige Sekretärin der Französischen Akademie,
Helene Carrere d´Encausse, die ich sehr verehre, dass „es kein richtiges
Europa ohne Russland geben kann“. Wir würden gern verstehen, ob unsere
Partner diese Sichtweise teilen oder ob sie geneigt sind, den Kurs auf
die Vertiefung der Spaltung des allgemein-europäischen Raumes und die
gegenseitige Konfrontation seiner Fragmente fortzusetzen. Wollen sie
eine Sicherheitsarchitektur zusammen mit Russland, ohne Russland oder
gegen Russland schaffen? Natürlich müssen auch unsere amerikanischen
Partner diese Frage beantworten.
Wir schlagen schon lange vor, mit dem Bau eines wirtschaftlichen und
humanitären Einheitsraumes von Lissabon bis Wladiwostok zu beginnen, der
sich auf die Prinzipien einer paritätischen und unteilbaren Sicherheit
stützen würde und sowohl die Mitglieder von Integrations-Bündnissen als
auch nichtgebundene Länder umfassen würde. Besonders aktuell ist die
Schaffung von verlässlichen Mechanismen bei der Zusammenarbeit zwischen
der Eurasischen Wirtschaftsunion und der EU. Wir begrüßen die sich
andeutende Unterstützung dieser Idee durch verantwortungsbewusste
europäische Staatsführer.
Im 40. Jubiläumsjahr der Helsinki-Abschlussakte und dem 25. Jahrestag
der Charta von Paris tritt Russland dafür ein, diese Dokumente mit
realem Leben zu füllen, die dort verankerten Prinzipien zu wahren und
die Stabilität und Prosperität im gesamten euro-atlantischen Raum auf
der Basis von echter Gleichberechtigung, gegenseitiger Achtung und
Berücksichtigung der Interessen aller zu gewährleisten. Wir wünschen der
im Rahmen der OSZE gebildeten „Gruppe der Weisen“, die in Form von
Empfehlungen zu einem Konsens kommen soll, viel Erfolg.
Wenn wir den 70. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs begehen,
sollten wir uns der Verantwortung bewusst sein, die auf uns allen liegt.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
(Übersetzung-Susanne Brammerloh/russland.RU)
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